LAG Schleswig-Holstein – Anwendbarkeit eines Tarifvertrags durch bloßes Handeln

Tarifvertrag kann auch ohne Tarifbindung gelten

Ist ein seit 1979 bestehendes Arbeitsverhältnis stets nach dem einschlägigen Manteltarifvertrag vergütet und abgewickelt worden und ist der Arbeitgeber tarifgebunden, so ist von einer konkludenten Bezugnahme des Tarifvertrags auszugehen. 

LAG Schleswig-Holstein, Urteil vom 09.06.2020 - 1 Sa 219/19

Sachverhalt 

Die Parteien streiten darüber, ob der Arbeitgeber die Jahressonderzahlung 2018 zahlen muss oder nicht. Der beklagte Arbeitgeber betreibt eine Bäckerei. Er ist Mitglied im Landesinnungsverband des Bäckerhandwerks Schleswig-Holstein und hat sich gegenüber dem Landesinnungsverband verpflichtet, die von diesem Verband geschlossenen Tarifverträge umzusetzen. Der Kläger ist seit dem 01.07.1979 ohne jeden schriftlichen Arbeitsvertrag als Konditor beschäftigt. Seinen Lohn erhält er auf Grundlage des Lohn- und Gehaltstarifvertrags. Der Umfang der Arbeitszeit und der Urlaubsanspruch entsprechen der Regelungen im Manteltarifvertrag für das Bäckerhandwerk Schleswig-Holstein (MTV). Bis 2011 erhielt der Kläger auch jedes Jahr eine Jahressonderzahlung, deren Höhe der im MTV vorgesehenen Jahressonderzahlung entspricht. Ab 2012 zahlte der Arbeitgeber mal keine Jahressonderzahlung, mal Jahressonderzahlungen in unterschiedlicher Höhe. 2017 wurde zunächst gar keine Jahressonderzahlung gezahlt. Als der Kläger eine Zahlungsklage erhoben hatte, schloss man einen Vergleich über einen als Jahressonderzahlung 2017 zu leistenden Betrag. Eine Jahressonderzahlung 2018 zahlte der Arbeitgeber nicht. Die Regelung zur Jahressonderzahlung im MTV enthält allerdings eine ‚Notfallklausel‘, nach der Arbeitgeber, für die die Auszahlung der tariflichen Jahressonderzahlung zu einer erheblichen wirtschaftlichen Schwächung des Betriebs führen würde, bei den Tarifvertragsparteien beantragen können, dass keine bzw. eine geringere Jahressonderzahlung geschuldet ist. Vorsichtshalber stellte der Arbeitgeber diesen Antrag für die Jahressonderzahlung 2018. Sowohl Verband als auch Gewerkschaft erlaubten die Aussetzung der Jahressonderzahlung 2018. Auch in diesem Jahr klagte der Kläger auf Zahlung der Jahressonderzahlung 2018. Diesmal wurde der Rechtsstreit vom LAG entschieden.

Entscheidung

Nach Ansicht des LAG Schleswig-Holstein muss der Arbeitgeber zwar die Jahressonderzahlung 2018 nicht zahlen, er ist aber grundsätzlich an die tariflichen Regelungen gebunden, obwohl es keinen schriftlichen Arbeitsvertrag gab. Das LAG war der Auffassung, dass das Verhalten der Parteien in der Vergangenheit so auszulegen sei, dass diese konkludent die Anwendung des jeweils geltenden MTV vereinbart haben. Das liege nicht nur daran, dass das Arbeitsverhältnis bislang so gelebt wurde, als würde der Tarifvertrag gelten, sondern vor allem auch daran, dass der Arbeitgeber Mitglied im tarifschließenden Landesinnungsverband war. Dadurch habe der Arbeitgeber dem Kläger stillschweigend angeboten, den gesamten Tarifvertrag anzuwenden. Das Angebot habe der Kläger durch Entgegennahme der Zahlungen stillschweigend angenommen. Damit gelte nicht nur die Regelung, nach der grundsätzlich eine Jahressonderzahlung zu leisten ist, sondern auch die Ausnahmeregelung, wann sie nicht zu leisten ist, sowie alle anderen Regelungen des Tarifvertrags. Deswegen habe der vorsorglich gestellte Antrag des Arbeitgebers auf Aussetzung der Jahressonderzahlung 2018 verhindert, dass die Jahressonderzahlung 2018 gezahlt werden muss. Im nächsten Jahr könne der Kläger sich aber wieder auf die tariflichen Regelungen berufen und die Zahlung gemäß Tarif verlangen.

Fazit

Wenn Sie sich faktisch an einem bestimmten Tarifvertrag orientieren und Ihre Arbeitsverhältnisse entsprechend dieses Tarifvertrags leben, kann es sein, dass dieser Tarifvertrag auch ohne ausdrückliche Vereinbarung und auch ohne Tarifbindung auf der Seite der Arbeitnehmenden gilt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn Sie Mitglied in dem tarifschließenden Verband sind, der den von Ihnen angewandten Tarifvertrag abgeschlossen hat. Auch ohne eine ausdrückliche Regelung, dass dieser Tarifvertrag gelten soll, können sich Ihre Arbeitnehmer*innen dann auf den Tarifvertrag berufen und hieraus Ansprüche gegen Sie ableiten.


 


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